Die folgende Biografie zu Thea Sternheim berücksichtigt nur die wichtigsten Daten ihres langen Lebens, stellt aber zum ersten Mal ausgewählte Informationen über ihre Beschäftigung als Amateurfotografin zusammen.
Die Amateurfotografinnen und -fotografen haben sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts von ihren professionellen Kolleginnen und Kollegen besonders dadurch unterschieden, dass sie nicht darauf angewiesen waren, ihre Ergebnisse zum Gelderwerb zu veräußern. Thea Sternheims Aufnahmen geben deutlich zu erkennen, dass sie sich an der professionellen Portraitfotografie ihrer Zeit, beispielsweise an Hugo Erfurth, Frieda Riess u.a., orientiert hat.
1883 - 1900
Thea Sternheim wird am 25. November als Olga Maria Theresia Gustava Bauer im rheinisch-katholischen Neuss bei Düsseldorf geboren und wächst in Köln mit zwei Brüdern auf. Ihr Vater, Georg Bauer, ist Mitinhaber der Schrauben- und Mutternfabrik Bauer und Schauerte, die der Familie den Reichtum eingebracht hat. Ihre Mutter Agnes Bauer entstammt der Familie Schwaben in Deutz, gerne besucht Thea ihre Großmutter Schwaben, bei der sie mit klassischer Literatur von Schiller, Goethe und Lessing in Berührung kommt. Sie liest viel, lernt gerne auswendig und schreibt kleine Theaterstücke.
Die Schulausbildung erhält sie in Pensionaten in Bonn und Brüssel; in den Museen lernt sie die Alten Meister kennen, aber neben dem Interesse an Kunstgeschichte entwickelt sie früh auch ein Gespür für tagespolitische Fragen. Zur Leidenschaft wird ihr die Beschäftigung mit deutscher, russischer und französischer Literatur.
1901
Gegen den Willen der Eltern geht sie mit 18 Jahren die Ehe mit dem zehn Jahre älteren, jüdischen Rechtsanwalt Arthur Löwenstein ein.
1902
Geburt der Tochter Agnes.
1903
Die Bekanntschaft mit dem Theaterautor und Dramatiker Carl Sternheim (1878-1942), der u.a. mit seinen Stücken "Die Hose" ( 1911 ) und "Der Snob" ( 1914) Skandale auslösen wird, weil er in ihnen den wilhelminischen Spießer aufs Korn nahm, verändert ihr Leben. Bei Sternheim findet sie Gespräche und Auseinandersetzungen über Literatur im Kreis von Freunden und Künstlerkollegen. Sie beginnt mit Tagebucheintragungen und veröffentlicht ihre Novelle "Anna" unter Carl Sternheims Namen.
Sie begegnet dem Kunsthändler und Galeristen Alfred Flechtheim, mit dem sie ihre Begeisterung für moderne Malerei teilt.
1905
Geburt der Tochter Dorothea, gen. Mopsa in Oberkassel bei Düsseldorf, die aus der Verbindung mit Karl Sternheim stammt.
Sie besitzt eine Kodak-Box und einen zweiten Fotoapparat; mit beiden macht sie Aufnahmen von der Familie.
Tod der Mutter.
1906
Tod des Vaters. Zusammen mit ihren beiden Brüdern ist sie Erbin des väterlichen Millionen-Unternehmens.
Trennung von Arthur Löwenstein.
1907
Scheidung von Löwenstein, bei dem Theas zwei Töchter aufwachsen, bis Dorothea 1912 zu den Eltern kommt.
Heirat mit Carl Sternheim.
1908
Geburt des Sohnes Klaus.
Erwerb zahlreicher Gemälde, darunter der L` Arlésienne von Vincent van Gogh. Die Familie bezieht Schloss Bellemaison in Höllriegelskreuth bei Pullach in der Nähe von München, das sie sich haben bauen lassen.
Besuch von Franz Blei und Gustav Klimt.
1909
Thea Sternheim schreibt von nun an regelmäßig Tagebuch, wobei sie das neue Jahr immer mit dem Tag ihres Geburtstags am 25. November beginnt. Ihre Einträge beziehen sich auf ihre Ehe, auf die Kinder, auf die politischen Verhältnisse, mit besonderer Intensität auf Literatur und Kunst und ihre Fotografien. Ihre Portraitfotografien von der Familie, von Freunden und Künstlerkollegen ordnet sie chronologisch den Tagebüchern zu und legt selbst gestaltete und ausführlich beschriftete Foto-Mappen an.
1910
Thea Sternheim lernt bei ihrem Chauffeur Auto fahren.
Kurz vor seinem Tod entsteht das Portrait von Hugo von Tschudi, dem ehemaligen Direktor der Nationalgalerie in Berlin, der sich beim Kaiser durch den Ankauf impressionistischer Gemälde unbeliebt gemacht hatte.
Besuch des Malers Ernesto de Fiori in Höllriegelskreuth, der Thea Sternheim in elegischer Haltung auf der Brüstung ihres Schlosses Bellemaison fotografiert.
Thea Sternheim lernt Schreibmaschine schreiben, korrigiert und tippt die Manuskripte ihres Mannes Carl ab.
1911
Sie erwirbt einen Fotoapparat, eine Schlitzverschlußkamera der Firma Goerz, die wegen ihrer kurzen Belichtungszeiten für Portraitaufnahmen besonders geeignet war.
Es entstehen die Portraits von Ernesto de Fiori und Alfred Flechtheim und Aufnahmen von Angestellten der Papierfabrik in Rouen (nicht erhalten).
Uraufführung von Carl Sternheims "Die Hose" in den Kammerspielen/ Deutsches Theater in Berlin.
1912
Sie richtet sich eine Dunkelkammer mit Spültisch ein und entwickelt mit zunehmender Begeisterung ihre Glasplatten. Im April nimmt sie Unterricht bei dem Hoffotografen Franz Wacker, der sein Atelier in Aschaffenburg betreibt.
Sie verkauft die Schlitzverschlusskamera und kauft sich eine kleine Kamera der Firma Goerz, vermutlich die 1910 auf den Markt gekommene "Westentaschen-Tenax“ (4,5x6 cm).
Zusammen mit Gerhart und Margarete Hauptmann und Fritz von Unruh besuchen Karl und Thea Sternheim Walter Rathenau in Freienwalde nordöstlich von Berlin. Es entsteht das Portrait von Fritz von Unruh.
Sternheims müssen aus finanziellen Gründen Bellemaison verkaufen und suchen sich einen neuen Wohnsitz in Belgien, in La Hulpe, nahe Brüssel.
1913
Sie kaufen in La Hulpe ein Haus und ziehen im Juli mit der ganzen Familie dorthin. Thea Sternheim richtet sich wieder eine Dunkelkammer ein.
1914
Verkauf des van Gogh-Gemäldes „L` Arlèsienne“ an die Gattin des Industriellen Friedländer.
Am 1. August Beginn des Ersten Weltkriegs mit dem Überfall auf Rußland; am 4. August überfallen die Deutschen Truppen Belgien. Am 5. August flieht die Familie Sternheim über Holland nach Bad Harzburg, wo sie im Hotel Kaiserhof wohnt.
Im Februar Uraufführung von Carl Sternheims "Der Snob" in den Kammerspielen/Deutsches Theater in Berlin.
1915
Aufenthalt in Genf im Hotel Beau Rivage; Begegnung mit den Schriftstellern und Kriegsgegnern Annette Kolb und Romain Rolland.
Aufenthalt in Königstein im Taunus (bis April 1916); hier entstehen die Portraits von Annette Kolb.
1916 - 1919
Familie Sternheim lebt in der Villa Clairecolline in La Hulpe bei Brüssel.
1917
Häufiges Zusammentreffen mit den in Brüssel stationierten Deutschen: Gottfried Benn, Alfred Flechtheim, Hermann von Wedderkop u.a. Die Verbindung mit Gottfried Benn bleibt mit Unterbrechung wegen heftiger politischer Auseinandersetzungen über den Nationalsozialismus bis zu seinem Tod 1956 bestehen.
1919 - 1922
Aufenthalte im Chalet Bellevue in Thun, in St. Moritz und im Schweizer Uttwil am Bodensee.
1922
Sternheims ziehen in die Nähe von Dresden, wo sie sich den "Waldhof" nach ihren Bedürfnissen einrichten.
1923 - 1924
Franz Pfemfert, Pazifist und Herausgeber der expressionistischen und sozialistischen Zeitschrift "Die Aktion", kommt aus Berlin mehrfach zu Besuch und wird von Thea Sternheim in das Fotografieren eingeführt; sie bringt ihm bei zu belichten, erklärt ihm die Objektive und das Entwickeln. Sie fotografieren gemeinsam und vergleichen die Ergebnisse.
1925
Sternheims ziehen nach Uttwill an den Bodensee in ein neu gebautes Haus. Thea reist nach Paris, trifft den Maler Frans Masereel und macht von ihm und seiner Familie ca. 70 Aufnahmen. Im Februar Reise nach Italien, u.a. nach Assisi und Perugia.
1926
Dorothea (gen. Mopsa) geht eine Beziehung zu Gottfried Benn ein.
Besuch von Klaus Mann, Pamela Wedekind und Erika Mann in Uttwil.
Theas Kinder leben in Berlin; Klaus hat eine Anstellung bei dem Verlag "Drei Masken".
1927
Franz Pfemfert eröffnet in Berlin sein erstes fotografisches Atelier, die "Werkstatt für Portraitphotographie", in der Nassauischen Straße in Berlin-Wilmersdorf. In der Emigration, wo er sich mit Portraitarbeiten den spärlichen Lebensunterhalt verdient, eröffnet er 1933 ein Atelier in Karlsbad, 1936 in Paris und 1941 in Mexiko.
Thea Sternheim und ihr Sohn Klaus machen einen Besuch im Atelier der Gesellschaftsfotografin Frieda Riess am Kurfürstendamm 14/15. Die Riess bezeichnet Thea Sternheim "als Orakel in photographischen Fragen" und Thea spricht von ihr Jahrzehnte später als der besten Portraitfotografin ihrer Zeit.
Thea Sternheim läßt sich nach zwanzig schwierigen Ehe-Jahren von Carl Sternheim scheiden und lebt in Berlin.
1928
Aufnahmen von René Crevel, Marc Allegret und Francesco von Mendelssohn.
Thea Sternheim sieht den Film "Johanna von Orléans" von Carl Theodor Dreyer und trägt begeistert in ihr Tagebuch ein: "Das ist ein formidables Bekenntnis, abgesehen davon, dass es ein photographisches Ereignis ersten Ranges ist. Die Falconetti prachtvoll als Leib und als Seele."
1931
Aufnahmen von André Gide.
1932
Thea Sternheim fotografiert begeistert Hände (nicht erhalten), ein damals beliebtes fotografisches Thema.
Sie emigriert nach Paris, weil ihr die wachsende Bedeutung der Nationalsozialisten in Deutschland Angst macht. Ihr Sohn Klaus lebt in Paris.
Ab 31. März wohnt sie im Hotel Atala.
1933
Gottfried Benn verliest im Rundfunk seine aggressive "Antwort an die literarischen Emigranten", die Thea Sternheim im Tagebuch mit Entsetzen kommentiert: "Benns Wandlung vom Adepten Nietzsches zum Barden des Nationalismus ..."
1935
In Paris trifft sie neben ihren Freunden und Bekannten auch die Fotografin Frieda Riess, die ebenfalls 1932 von Berlin nach Paris gegangen ist.
1937
Es entsteht die Portraitserie von Max Ernst in seinem Pariser Atelier.
1940
Deutsche Truppen besetzen Paris. Thea Sternheim muss sich wie alle deutschen Frauen am 7. Juni im Velodrom d`Hiver einfinden und wird ins Internierungslager Gurs transportiert. Sie bleibt dort vom 12. Juni bis zum 11. August. Zur selben Zeit sind auch die Malerin Lou Albert-Lasard und ihre Tochter Ingo de Croux interniert. Thea Sternheim kommt am 20. August nach Paris zurück.
1943
Ihre Tochter Dorothea, gen. Mopsa gerät in die Hände der Gestapo, im Januar 1944 wird sie nach Deutschland deportiert und ins Lager Ravensbrück verbracht; sie überlebt die Internierung und kehrt 1945 nach Paris zurück.
1946
Ihr Sohn Klaus stirbt.
1952
Erscheinen ihres Romans "Sackgassen" im Limes Verlag.
1954
Tod der Tochter Dorothea.
1963
Umzug in die Schweiz nach Basel, wo ihre Tochter Agnes als Sängerin tätig ist.
1971
Thea Sternheim stirbt am 5. Juli mit 88 Jahren in Basel.
2002
Es erscheint „Thea Sternheim – Tagebücher 1903-1971“, Hg. und ausgewählt von Thomas Ehrsam und Regula Wyss, 5 Bände, 3699 S., 80 Abb. im Schuber, im Wallstein Verlag.
2008
DAS VERBORGENE MUSEUM, Berlin, zeigt die erste Ausstellung mit Thea Sternheims Fotografien, die im Deutschen Literaturarchiv Marbach (neben ihrem schriftlichen Nachlass), in der Heinrich Enrique Beck-Stiftung, Basel, und in einer Privatsammlung aufbewahrt werden.
2015
Ausstellung „Thea Sternheim 1883-1971 – Tagebuchautorin, Kunstsammlerin, Fotografin“ in der Universitätsbibliothek Basel. Dazu erscheint der Begleitband „‘Keiner wage mir zu sagen: Du sollst!‘ – Thea Sternheim und ihre Welt“.
2021
DAS VERBORGENE MUSEUM, Berlin, zeigt die Ausstellung „Wahlverwandtschaften – Rendezvous mit Fotografinnen
1900 - 1935“; einen Schwerpunkt bilden ausgewählte Fotografien von Thea Sternheim.
Eröffnung
Mittwoch | 29. Oktober 2008 | 19 Uhr
Es sprechen
Elisabeth Moortgat, Das Verborgene Museum
Einführung
Laufzeit
30. Oktober 2008 – 8. Februar 2009
geschl. 18.12.2008 - 04.01.2009
Bücherbazar
Dezember 2008
Öffnungszeiten
Donnerstag, Freitag 15 - 19 Uhr
Samstag, Sonntag 12 - 16 Uhr
STANDORT > ADRESSE
Der Verein DAS VERBORGENE MUSEUM | Dokumentation der Kunst von Frauen eV
hat seine Tätigkeit seit dem 1. Januar 2022 eingestellt. Lesen Sie bitte in der Hauptspalte links weiter.
AKTUELLE Rufnummer
+49 (0) 30 861 34 64
Bildzitate | Ausstellung Thea Sternheim | 30. Oktober 2008 – 8. Februar 2009
Flyer zur Ausstellung
THEA STERNHEIM und ihre Welt –
„Keiner wage, mir zu sagen: Du sollst!“,
Thomas Ehrsam, Regula Wyss (Hg.), mit Texten von Regula Wyss, Thomas Ehrsam, Dorothea Zwirner, Marion Beckers und Elisabeth Moortgat („Thea Sternheims fotografischer Kosmos – ein Fragment“), 214 S., 180 Abb., Wallstein 2015
berlin@dasverborgenemuseum.de
STADTPLAN
siehe Kontakt
Eine Ausstellung im Rahmen des 3. Europäischen
Monats der Fotografie
Mit Unterstützung: Dr. Thomas Ehrsam, Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA)
© Heinrich Enrique Beck-Stiftung, Basel
Gefördert von der Senatskanzlei Kulturelle Angelegenheiten,
Berlin: Künstlerinnenprogramm