22. January 1998 - 15. March 1998

LOTTE ERRELL 1903-1991

Reporterin der 1930er Jahre

Berichte über ferne Länder, die Lebenswelten fremder Völker und exotische Kulturen gehörten in den 1920er und 1930er Jahren zum festen Bestandteil des Programms einer jeden großen Illustrierten. Eigens auf Reiseberichte ausgerichtete Magazine wie die monatlich erscheinende Zeitschrift ATLANTIS und eine Fülle von länderkundlichen Buchveröffentlichungen eröffneten zudem den Photographinnen und Photographen ein ganz neues Tätigkeitsfeld. Längst war das individuelle Reisen noch nicht so verbreitet wie heute; zwar war man durch Reiseberichte – häufig mit Stichen illustriert – über fremde Kulturen informiert, aber die Photoreportage sollte nun infolge der neuen technischen Möglichkeiten, Impressionen aus dem Alltag in fernen Ländern in jedes Haus bringen. Statt inszenierter und gestellter Einzelbilder waren Momentaufnahmen gefragt, weil sie in der Erfassung des Augenblicks von höherer Authentizität waren.

Zu den Namen der bekannten schreibenden und photographierenden Journalisten wie Walter Bossard, Harald Lechenperg oder Alfred Eisenstaedt gehören auch die von Photographinnen wie beispielsweise Caecilie Seler-Sachs, Alice Schalek, Germaine Krull, Ella Maillart, Annemarie Schwarzenbach, Marianne Breslauer und Lotte Errell. In einer Zeit, in der die Frauen besonders durch Berufstätigkeit versuchten, in der Öffentlichkeit Fuß zu fassen, war das Schreiben und Photographieren auf Reisen eine geeignete Möglichkeit, Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zu erproben.

Lotte Rosenberg, 1903 als Tochter eines wohlhabenden jüdischen Pferdehändlers in Münster (Westfalen) geboren, wurde nach zum Teil autodidaktischer Aneignung der Photographie und Mitarbeit im Werbeatelier ihres Mannes Richard Levy (Errell), den sie 1924 heiratete, seit den ausgehenden 1920er Jahren publizistisch tätig. Als Photographin und Autorin veröffentlicht sie seitdem unter dem Namen Lotte Errell. Ihre erste Reise fällt in die Jahreswende 1928/29, als sie sich der mehrmonatigen Expedition unter Leitung der Ethnologin Gulla Pfeffer und des Filmemachers Dr. Friedrich Dalsheim an die Goldküste nach Westafrika, heute Ghana, anschließt. Unter dem Titel „Menschen im Busch“ hatte der Film 1930 im Berliner Marmorhaus Premiere und Lotte Errell hat ihre Photographien an Ullstein zur Veröffentlichung in der „Koralle“ und an den Atlantis-Verlag verkauft. Unter dem Titel „Kleine Reise zu schwarzen Menschen“ hat sie 1931 ein Buch herausgegeben, in dem sie – mit Photographien illustriert – vom Gegensatz zwischen Stadt und Land, von den unbarmherzigen Stammesriten der Ewe beim Gesetzesverstoß, von der englischen Oberschicht und ihrem Einfluß durch Missionsschulen und Militär, den nicht ungefährlichen hygienischen Zuständen sowie den für einen Europäer nur schwer genießbaren Gerichten erzählt: „… man muß weiteressen, auch wenn man mit jedem Löffel Suppe Termiten fischt. Jene unangenehmen, laut brummelnden Insekten mit dem kleinen Vorderkörper, an dem Kopf und Flügel sitzen, und dem vollkommen beinlosen Hinterleib, der nicht nur das Aussehen, sondern auch die Beweglichkeit einer Blindschleiche hat.“ Aber Errell gerät nahezu ins Schwelgen, wenn sie von Papayas, Ananas oder auch nur Bananen schwärmt, „ die, bei uns so heruntergekommen …, dort unten durch ihre Frische und Saftigkeit zu einer nie geahnten Delikatesse“ werden. Errell enthält sich einer – in der Zeit verbreiteten – Klage um den infolge europäischen Einflusses auch hier in Gang gekommenen Untergang der Kultur der „Naturvölker“, übersieht aber beispielsweise nicht die im Einzelfall häufig tragischen Folgen missionarischer Tätigkeit. In ihren Figurenstudien und Einzelportraits arbeitet sie in der Mehrzahl mit Nah- und Großaufnahmen. Freigestellte Objekte und ausschnitthafte Hervorhebungen weisen zwar typische Elemente der Neuen Sachlichkeit auf, scheinen aber dennoch die sachliche Information der emotionalen Anteilnahme ebenso wie das bildnerische dem ethnologischen Interesse unterzuordnen.

Lotte Errells größte Unternehmung wurde ihre 1931 angetretene eineinvierteljährige Reise nach China im Auftrag des Ullstein-Verlags. Am Ende des Jahres fährt sie nach Shanghai und macht von dort aus eine tagelange Fahrt über den Jangtse-Kiang bis zur Hafenstadt Tschungking. Im Frühjahr 1932 hält sie sich dann in Peking auf. Die Reportagen der Chinareise sind die am meisten publizierten Bildserien der Photographin; sie erschienen in der „Berliner Illustrirten Zeitung“, „Der Dame“, der „Koralle“, in „Atlantis“ und im „Uhu“, aber sie wurden auch international durch die Agentur Mauritius vertrieben. In einer Art Querschnitt hat Errell ein Bild der chinesischen Gesellschaft erfaßt – sozusagen im Spannungsfeld zwischen Modernisierung und Tradition. Dabei spielte vor allem die Situation der Frauen eine Rolle, der Alltag der Arbeiterin in Stadt und Land, die frauenfeindliche Sitte des Fußbindens, aber auch die europäisierte Lebensweise der Damen aus der Oberschicht, des chinesischen Großbürgertums, der reichen Kaufleute und Bankiers. Das Interesse darüber zu lesen war groß, was sich darin niederschlug, daß zahlreiche Frauenzeitschriften des Ullstein-Verlags regelmäßig über Frauen in aller Welt berichteten.

Errells Chinabilder sind stärker einer dokumentarischen Herangehensweise verpflichtet als ihre Afrika-Aufnahmen; mit Einfühlungsvermögen für das Szenische greift sie einzelne, häufig befremdliche oder komische Motive heraus und experimentiert zugleich immer wieder auch mit den modernen photographischen Gestaltungsmitteln, wie zum Beispiel mit der ungewöhnlichen Perspektive von oben in der Aufnahme „Chinesische Rikschakulis im Regen“.

Die wachsende Anzahl von Bild-Text-Berichten in den Illustrierten läßt auf eine erfolgreiche Reportertätigkeit der Photographin schließen, die, ganz dem Bild der „Neuen Frau“ entsprechend, modern und selbstbewußt außer in Afrika und China auch in Kurdistan, im Irak, in Syrien, in England und Irland ihren Beruf ausgeübt hat, bis ihre Karriere abbrach, als sie 1934 die Nachricht von ihrem Ausschluß als Jüdinaus dem Reichsverband Deutscher Schriftleiter erreichte. Eine Fortführung der Arbeit in Deutschland war damit jednfalls unmöglich geworden. Derzeit im Irak lebend, wurde sie als Inhaberin eines deutschen Passes während des Krieges der Spionage für Nazideutschland verdächtigt, mehrfach in Internierungslager verschleppt. Wiederholte Versuche ihrerseits, in die USA einzuwandern, schlugen fehl. 1954 übersiedelte Lotte Errell nach München, wo sie bis zu ihrem Tode 1991 lebte. Das Photographieren hat sie aus gesundheitlichen Gründen nie mehr wieder aufnehmen können.

Die Photographien, die im Verborgenen Museum zu sehen sind, stammen aus der Fotografischen Sammlung, Museum Folkwang Essen und wurden dort zum ersten Mal im Herbst letzten Jahres in einer Ausstellung gezeigt.

Marion Beckers

Biografie
Künstlerinnen A-E
Publikationen A-E

Eröffnung 
Mittwoch, 21. Januar 1998 | 19 h


Zur Einführung spricht 
Elisabeth Moortgat
DAS VERBORGENE MUSEUM


Laufzeit
22. Januar -15. März 1998 

Öffnungszeiten
Mi - Fr 15- 19 |  Sa -So 12- 16 h

LESUNGEN, MUSIK | 27., 28. 01.1998 | 20 h
»Kleine Reise zu schwarzen Menschen«. 1931
von LOTTE ERRELL

Es liest: Inge Keller
Percussion: Robin Schulkowsky

Veranstaltungen 
Im Rahmen von Schauplatz Museum
Museumspädagogischer Dienst Berlin


STANDORT | Adresse 
DAS VERBORGENE MUSEUM
Dokumentation der Kunst von Frauen e.V.
Schlüterstrasse 70
10625 Berlin-Charlottenburg

 

Einladungskarte zur Ausstellung

 

Publikation liegt zur Ausstellung vor:

Ute Eskildsen, Dorothee Wiethoff, 
Lotte Errell – Reporterin der 30er Jahre,
s/w Tafeln, 78 Seiten
Fotografische Sammlung, Museum Folkwang, Essen 1997

 

Eine Ausstellung aus der
Fotografischen Sammlung im Museum Folkwang, Essen

Mit Unterstützung der Senatsverwaltung filr
Wissenschaft, Forschung und Kultur
- Künstlennnenprogramm


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