LIDY VON LÜTTWITZ
Gisela Breitling - Zu Leben und Werk von Lidy von Lüttwitz
Lidy von Lüttwitz‘ Skulpturen scheinen entfernt von den Fragen, Expertimenten, Widersprüchen und Provokationen zeitgenössischer Bildhauerei gemacht zu sein. Dabei versteht es sich, daß ihre Formensprache der Grundannahmen der Moderne verbunden ist – auf den ersten Blick sogar mehr als auf den zweiten, beim Betrachten eines einzelnen Werks mehr als bei der Wirkung, die die Skulpturen entfalten, zu einem Ensemble gruppiert sind. Jede einzeIne Plastik läßt spüren, daß und wie die Bildhauerin sich, wie sie selbst sagt, „als Medium des lebendigen Materials betrachtet". Volumen und Oberfläche,
Dynamik und Ruhe, oder: Wachstum und Auflösung - solche im Stein oder im Holz eingeschlossene Möglichkeiten werden herausgearbeitet und als Volumen und Oberfläche erschlossen. Die Eigenschaften von Stein und Holz kommen zum Vorschein, und in diesem Hervorscheinen enthüllen sich Geheimnisse, die an existentielle Zustände und Befindlichkeiten rühren. Dies geschieht wie nebenbei, scheinbar leichthin, fast heiter, doch klingt darin auch, wie eine ferne Ahnung, Bedrohliches auf, Erinnerung an mythische Welten, ein dunkler Ton, wie aus den Urwäldern von Henri Rousseau oder
Max Ernst.
Sprache, die den Text geben soll zu einem visuellen Gebilde, müßte ein Kunstwerk sein. Daher möchte ich hier einige Zeilen der Lyrikerin Gabriela Mistral zitieren, die, wie ich finde, etwas den Skulpturen der Lidy von Lüttwitz Analoges zum Ausdruck bringen. In ihrem Gedicht „Drei Säume“ heißt es:
„… Die schwindende Sonne
legt ihr Iebendiges Blut auf die gespaltenen Stämme
und der Wind trägt den Duft
ihrer offenen Seite fort.
Einer, ganz verkrümmt
streckt seinen riesigen Arm mit dem bebenden Laub
einem anderen entgegen, seine Wunden
gleichen Augen voll Bitten ...“
Später heißt es in diesem Gedicht
„... ich bleibe bei ihnen
will empfangen in meinem Herzen ihr mildes Harz ...
Wie Feuer wird es sein ...“
Gabriela Mistral hat übrigens zehn Gebote für Künstler geschrieben und Lidy von Lüttwitz hat diese Gebote gehalten. Hier ein Auszug:
„3. Du sollst die Schönheit zu keinem Kitzel der Sinne machen, sondern zur natürliche Zehrung der Seele. …
5. Du sollst die Schönheit nicht auf den Jahrmärkten suchen, sie nicht dorthin tragen . . .
8. Du sollst dein Werk wie dein Kind hervorbringen ...
9. Dir soll die Schönheit nicht einschläferndes Opium sein, sondern ein edler Wein, der dich zur Tat anfacht. Hörst du auf, Mann oder Frau zu sein, bist du nicht länger Künstler ...“
(bzw. Künstlerin müssen wir hinzufügen, im Spanischen gibt es dafür nur einen Begriff)
In der Formulierung von Gabriela Mistral gewinnt das Wort Schönheit etwas zurück von der Strenge und Absolutheit die ihm zukommt. Philosophie und Reflexion über Ästhetik haben immer das gemeint: heute ist dieser Begriff im Kunstzusammenhang tabu. Für die Plastiken von Lidy von Lüttwitz gilt es aber, wenn man ihn im Sinn der Dichterin versteht.
Gemeint sind Großzügigkeit und Strenge, Konsequenz und Feingefühl, was sich vor allem bei der differenzierten Bearbeitung der Oberflächen zeigt. Da ist der geglättete oder riffelige Stein, das Holz, seine Rauheit und Sperrigkeit, oder geschliffen und geglättet, gefaßt nach den Rezepten und Methoden gotischer Holzskulpturen, mit Grundierungen aus Leim und Kalk, auf die die Farbschichten aufgetragen werden. Das da und dort verwendete Blattgold, aufgelegt und getönte Grundierung, dann poliert oder stumpf gelassen, setzt einen besonderen Akzent, bewirkt eine mythische Überhöhung der Formen und Farben, wirkt aber niemals schwer oder absichtsvoll bedeutsam, weil die Bildhauerin stets eine Grenze einhält zwischen Spielfreude, Erzähllust und dem Erspüren der Kräfte der Natur, die sie in ihren Titeln benennt: „Entfaltung“ „Wachsen und Welken“ „Loslösung“.
Lidy von Lüttwitz wurde 1902 in Berlin geboren. In den Jahren 1920-1924 hat sie hier Malerei und Bildhauerei studiert. Wie viele ihrer damaligen Studien-Kollegen und Kolleginnen ging sie in dieser Zeit zur Fortsetzung ihrer Studien auch nach Paris. 1929 studierte sie Steinbildhauerei an der Hochschule für Bildende Künste Berlin bei Prof. Diederich.
Wie Louise Rösler gehört auch sie zur ersten Generation von Frauen, für die sich endlich nach langen Kämpfen die staatlichen Kunsthochschulen und Akademien geöffnet hatten - zu einer betrogenen Generation, denn als die Künstlerin 1932, knapp 30jährig, ein eigenes Atelier beziehen kann, steht die Nazidiktatur und ihre dumpf-völkische Kulturpolitik kurz bevor.
Über diese Zeit schreibt Alma Larsen: "Lidy von Lülttwitz mußte froh sein, daß sie in ihrem ersten Atelier wenigstens ein paar Jahre arbeiten konnte, bevor es beschlagnahmt und zur Konservenfabrik umfunktioniert wurde. Ausstellungsmöglichkeiten gab es für sie, wie für alle sogenannten „entarteten“ Künstler nicht. Nach 12 Jahren der Isolation und ohne Kontakt zu den Entwicklungen, die sich in den internationalen Kunstzentren vollzogen hatten, galt es nach Kriegsende zunächst, Anschluß zu finden. Für viele deutsche Künstler war die Ècole de Paris maßgebend, und auch Lidy von Lüttwitz arbeitete, im Gegensatz zu früher, einige Zeit ganz abstrakt, bis ihr klar wurde, daß dies nicht ihrem Wesen entsprach. 1)
Aber auch der Versuch einer Rückkehr zur Realistischen Darstellungsweise erwies sich unbefriedigend.
Die Zeit der künstlerischen Isolation, gerade während der beruflichen Anfangsphase, dann, als sich endlich Möglichkeiten ergeben, eine erzwungene Neuorientierung, bis der eigene Weg, die eigene Thematik erkannt und entwickelt werden konnte – diese geschichtlichen und biographischen Einbrüche erweisen sich für Frauen als besonders verlustreich und tragisch. Nicht nur für die einzelnen Künstlerinnen. Bis heute sind diese Verluste zu spüren, denn die Frauen, die als entartet - diffamiert, in der Nachkriegszeit im Kunstbetrieb Fuß zu fassen suchten, hatten es damit unvergleichlich viel schwerer als ihre männlichen Kollegen. Wer denkt bei entarteter Kunst und ihrer Rehabilitierung schon an Frauen.
Die Künstlerinnen der ersten Generation, die um 1900 Geborenen, die erstmals zumindest ohne formale Behinderung zum Studium zugelassen waren, fanden sich nach 1945, inzwischen nicht mehr jung, meist ohne finanzielle Mittel, auf ihrem künstlerischen Weg um mehr als ein Jahrzehnt zurückgeworfen, in einem Kulturbetrieb wieder, in dem Männer wie eh und je ihre Netzwerke und Verbindungen knüpften, neue Doktrinen verkündeten, einander in von ihnen gegründete Institutionen und Funktionen verhalfen. Den jüngeren Künstlerinnen der Nachkriegszeit war damit die Avantgarde der Frauen genommen; sie mußten, genau wie die vorangegangenen, wieder als erste beginnen, ohne weibliche Vorbilder, in einer weiterhin von Männern bestimmten Kunstszene.
Da Frauen bisher ohnehin fast immer als Einzelne in dieser Szene auftraten, ist für sie das fast gänzliche Verschwinden jener ersten Künstlerinnen-Generation dieses Jahrhunderts ein Verlust von historischer Tragweite. Im Fall der Lidy von Lüttwitz und nicht nur in ihrem Fall heißt dies auch: längere Wege bis zum eigenen künstlerischen Weg, was gleichbedeutend ist mit einem geringeren Umfang des Œuvres. Lidy von Lüttwitz konnte nicht „als Verkäuferin ihrer Ware Kunst die Kontakte aufbauen, die in unserer Gesellschaft mindestens zur Hälfte den Erfolg von Kunstschaffenden ausmachen". Wie Alma Larsen schreibt, die dies auch damit begründet, daß die Künstlerin seit ihrer frühen Jugend nahezu taub ist. 2)
Ab 1947 stellte Lidy von Lüttwitz verschiedentlich in Berlin aus: in der Galerie Gerd Rosen, der Galerie Springer und der Galerie Reinickendorf. 1952 wird sie Kunstpreisträgerin der Stadt Berlin. Sie erhält öffentliche Aufträge: 1954 entsteht das Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus. Sie schafft Brunnenplastiken und den "Großen Stehenden", aufgestellt vor dem Rathaus Reinickendorf.
Obwohl sie sich in Berlin Anfang der 1950er Jahre einen Namen gemacht hat, verläßt sie 1959 die Stadt und zieht mit dem mit ihr befreundeten Künstlerehepaar Theodor und Woty Werner nach München. Seit 1969 lebt und arbeitet sie in Altenhohenau, einem kleinen Ort in der Nähe von Wasserburg bei München. Ein altes, zerfallenes Brauereigebäude, seitdem ihr Wohnsitz und ihr Atelier, hat sie, jahrelang „in erster Linie als Maurergehilfin arbeitend" (Larsen), eigenhändig aus seinem abrißreifen Zustand um- und aufgebaut.
Ihre letzten Jahre in Berlin waren nicht nur von bedrohlichen und unwägbaren politischen Ereignissen überschattet. Ein schwerer Unfall, bei dem eine mehrere Zentner schwere Skulptur auf sie gestürzt war, hatte eine Arbeitspause von 4 Jahren erzwungen, wodurch wichtige Kontakte zum Erliegen kamen.
Lidy von Lüttwitz' Skulpturen sind außerhalb Berlins zuletzt in der Städtischen Galerie Rosenheim gezeigt worden. Davor in München in der Stuck-Villa, außerdem in den Galerien Günther Franke und Seifert–Binder und in der Galerie der Künstler. Einzelausstellungen fanden ferner statt im Städt. Museum Leverkusen und in Schloß Morsbroich sowie in den Galerien Hanna Bekker vom Rath in Frankfurt und Nebelung in Düsseldorf.
Anhand dieser Ausstellungslisten läßt sich sagen, daß man Lidy von Lüttwitz nicht gänzlich ignoriert hat. Heißt das aber, daß sie zur Kenntnis genommen wurde? Ich behaupte: Nein. Große spektakuläre Ausstellungen, die den Anspruch haben, das Kunstschaffen der Gegenwart zu dokumentieren, haben offensichtlich auf sie verzichtet. Wäre dies nicht der Fall, so könnte deutlich werden, daß etliche Grenzüberschreitungen, Erfindungen und Neuerungen, mit denen wir in solchen Ausstellungen konfrontiert werden, von ihr in der Stille vollzogen worden sind, allerdings ohne umstürzlerische Attitüde, ohne den provokanten Hohn, mit dem das Publikum gelockt und abgewiesen wird, und auch ohne das begleitende Theoriegemurmel, diese für viele Werke unabdingbare höhere Sphärenmusik des Zeitgeists.
Lidy von Lüttwitz' ragende Stelen, ihre Gewächse, aus denen Augen den betrachtenden Blick erwidern wie aus entfernter vergangener oder künftiger Zeit; ihre vegetabilen Gebilde, die an die Empfindlichkeit und Gefährdung, aber auch an die untergründigen Kräfte des organischen Wachstums erinnern, scheinen manchmal auf einer fragilen Grenzlinie zu stehen zwischen Kunst und Natur, und der Raum, den sie einnehmen, gerät in Schwingungen - oder anders gesagt: dort breitet sich Stille aus.
Es ist die von Dämonen und Wundern bevölkerte Stille des Waldes von Bomarzo, des manieristischen sacro bosco. Der Anklang an manieristische Kunst wird vor allem im Zusammenstehen der Skulpturen deutlich. Ein solcher Anklang scheint gegenwärtig nicht zeitgemäß - Mitte der 1960er Jahre hatte die Beschäftigung mit dem Manierismus eine Gegenströmung zu damaligen tachistischen Abstraktionen ebenso wie zu den Vorboten der Pop-art bewirkt.
Die Skulpturen der Lidy von Lüttwitz, in diesen Bedeutungszusammenhang zu stellen, würde ihnen allerdings nicht gerecht. Allenfalls die Grenzüberschreitung, die im Begriff Manierismus enthalten ist, kann als Hinweis gelten. Denn die Kunst der Bildhauerin überschreitet die Grenzen des Materials, dessen Eigenschaften sie so sorgfältig folgt. Sie sagt:
„Die Wörter könnten sich dem Dichter auf unerhörte Weise geben - das Material dem Bildenden die Augen aufgehen lassen“ 3).
Anm. 1-3 Alma Larsen: Im Inneren der Schnecke – die Bildhauerin Lidy von Lüttwitz in: Nachtcafe, 1987, Seite 51-57
Mittwoch, 29. August 1990 | 19 h
Die Künstlerin ist anwesend
Es sprechen
Alexandra Goy
Das Verborgene Museum
Dr. Anke Martiny
Senatorin für Kulturelle Angelegenheiten
Gisela Breitling
Zu Leben und Werk von Lidy von Lüttwitz
Musik | es spielen
Tatiana Smirnova »Little Triptych« op. 40, (1987)
Alice Samter »Sketch II«
Bettina Wickihalder - Flöte
Claudia Hohn - Klarinette
Ulrike Bertram - Fagott
LAUFZEIT
30. August 1990 - 2I. Oktober 1990
ÖFFNUNGSZEITEN
Di-Mi 12-17 h | Do-Fr 15-19 h | Sa-So 12-16 h
STANDORT > ADRESSE
Der Verein DAS VERBORGENE MUSEUM | Dokumentation der Kunst von Frauen eV
hat seine Tätigkeit seit dem 1. Januar 2022 eingestellt.
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Bildzitate | Ausstellung Lidy von Lüttwitz | 30. August 1990 - 21. Oktober 1990
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