29. May 1997 - 06. July 1997

ILSE VON HEYDEN-LINDEN 1883 – 1949

Das Geheimnis der Blauen Balken

Ilse von Heyden-Linden wurde am 5. April 1883 auf Gut Philippshof im Kreis Demmin als zweites von sechs Kindern geboren. Bereits mit zwölf Jahren begann sie, Motive ihrer Heimat zu zeichnen. Vielleicht war ihr frühentdeckte Talent einer der Gründe, der sie veranlaßte, mit fünfzehn Jahren nach Berlin zu ihrer Tante zu gehen und die um die Jahrhundertwende renommierte Mal- und Zeichenschule des Vereins der Berliner Künstlerinnen zu besuchen. Ilse von Heyden-Lindens frühe Arbeiten müssen damals von hoher Qualität gewesen sein: 1908 erhielt sie einen dritten Preis im Wettbewerbe „Landschaft in Oelfarben“ des Vereins der Berliner Künstlerinnen, 1910 den zweiten Preis in dem Vereinswettbewerb „Schwarz-Weiß“. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges hat sie sich an den internationalen Ausstellungen in Berlin beteiligt, so zum Beispiel an der „Juryfreien Kunstausstellung“ und an der „Großen Berliner Kunstausstellung“, und hat rege am Kunstgeschehen der Metropole teilgenommen.

Die Jahre 1911/12 verbrachte Ilse von Heyden-Linden in Paris, wo sie eine Privatschule – vermutlich die Académie Julian – besuchte. In dieser Zeit erfährt ihr Malduktus und ihr pastoser, spachtelartiger Farbauftrag eine impressionistische Vehemenz. Arbeitsspuren, wie dicke Pinsel- und Spachtelstriche, einritzungen oder Materialunebenheiten bleiben erhalten, wodurch ein flüchtiger, unmittelbarer Eindruck entsteht. Die Skizzenhaftigkeit wird noch dadurch verstärkt, daß sie die Bildpartien nicht ausarbeitet, sondern nur andeutet. Der ästhetische Reiz ihrer Malerei besteht in dem wirkungsreichen Nebeneinander von ausgearbeiteten und unbearbeiteten Partien, in der Spannung der freistehenden Materie, der Malpappe, die mit den pastosen und reliefartig ausgeführten Bildteilen kontrastiert. Die impressionistische Auflösung der festen Form, die Skizzenhaftigkeit und das Sichtbarwerden der Arbeitsspuren haben in den kleinformatigen Werken während und nach Ilse von Heyden-Lindens Studium in Paris ihren Höhepunkt erreicht.

Auch das 1910 entstandene Gemälde der „Diele in Gehmkow“ gehört in diese fruchtbare impressionistische Schaffensphase, wenngleich die Skizzenhaftigkeit hier noch zurückgenommen ist. Das Bild zeigt einen Dachboden mit Dachschräge, der von leuchtend blauen Balken beherrscht wird. Hinter dem Schrank strömt Sonnenlicht durch ein schräges Fenster und taucht den ganzen Dielenboden in bläuliches Licht. Allen Farbwerten ist Blau beigemischt, das den Raum atmosphärisch durchdringt. Erstaunlich sind jedoch die leuchtend blauen Balken. Sie lassen eine Wende im Œuvre der Malerin vermuten. Welche avantgardistischen Einflüsse sind dafür verantwortlich? Ilse von Heyden-Lindens jüngere Schwester Barbara löst das Geheimnis: „Ilses Malerauge sah den vielfarbigen Schimmer, den der helle Hof, der blaue Himmel, die grünen Bäume auf die Kalkwände warfen, sah das goldgrüne Licht der Linden am Giebel durch die offene Tür der Fremdenstube , daneben daneben die alte eisenbeschlagene Truhe, sah die leuchtend blaue Farbe, mit der unsere Mutter in einem Anfall von Farbenhunger die grauen Balken der öden Diele hatte antünchen lassen“.  

Damit wäre das Geheimnis der blauen Balken geklärt. Nicht der avantgardistische Verzicht auf die Übernahme der Lokalfarbe, nicht prägende Einflüsse fauvistischer Künstler, wie Matisse oder Derain, sondern der „Farbenhunger“ der Mutter läßt also die ungewöhnlich leuchtenden blauen Balken dieses Gemäldes entstehen. Auch wenn Ilse von Heyden-Linden noch an der Wiedergabe des vorgegebenen Motivs der blauen Balken festhält, sie also übernimmt und nicht erfindet, so ist in diesem Werk bereits ein Übergang zu einer neuen Phase zu erkennen. Nur wenig später vollzieht sie den nächsten Schritt und verändert die Lokalfarbe nach Belieben zu eigenwilligen Farbkompositionen. Die Malerin befreit die Farbe nun von aller Analogie zur Wirklichkeit. „Die blaue Kastanie“, entstanden im Jahr 1913 scheint eine einzige überquellende, leuchtend blaue Blüte zu sein. Erst bei näherem Hinsehen erkennt der Betrachter eine kleine weiße Sitzbank unter dem Baum und die beiden durch dunkle Konturen eingefaßten, flächenhaft ornamentalen Blumenbeete. Den Fauvisten vergleichbar baut Ilse von Heyden-Linden ihre Kompositionen aus großen, dunkel umrandeten Flächen auf. Als „Fauves“, als wilde Tiere, hatte der Pariser Kritiker Vauxcelles voller Empörung die Maler der in Zinnober, Orange, giftigem Grün, Scharlachrot und in tiefstem Blau leuchtenden Leinwände beschimpft, die wie ein Paukenschlag in die Salons d’Automne von 1905 eingebrochen waren. Matisse und seine Anhänger, Derain, Marquet und Vlaminck, griffen die Beschimpfung auf und machten daraus eine Stilbezeichnung. In der flächigen Ausbreitung ihrer Sujets und in der Eigenwilligkeit im Umgang mit der Farbe nahmen sie eine Gegenposition zum Naturalismus und dem daraus hervorgegangenen Impressionismus ein. Löste der Impressionismus die Bildgegenstände atmosphärisch auf, so wurden sie bei den Fauves durch die dunkle Konturierung wieder gefestigt, vereinfacht und verflächigt. Auch Ilse von Heyden-Lindens Loslösung vom Impressionismus wird in diesen Jahren offenkundig.  

Ihre produktive Schaffensphase, in der ihre besten Werke entstehen, wird durch den Ersten Weltkrieg jäh unterbrochen. Als sich die Malerin Ilse von Heyden-Linden Ende der zwanziger Jahre aus finanziellen Gründen endgültig in Demmin, in dem Haus am Mühlenteich, das der Familie gehörte, niederließ, vollzog sie den Schritt vom Leben in dem Kunstzentrum Berlin in eine vorpommersche Kleinstadt. In ihrem Spätwerk fand sie zu einem ruhigen, gemäßigten Expressionismus. Die Hinwendung zur expressiv-realistischen Ausdrucksform ist als existenzielle Antwort ihrer Generation auf die geistigen Umwälzungen und geschichtlichen Ereignisse seit dem Ersten Weltkrieg zu sehen.  

Am 3. September 1949 starb Ilse von Heyden-Linden, innerlich vereinsamt und schwer herzleidend, im Alter von nur 66 Jahren in Demmin. Eine Künstlerin ist wieder zu entdecken: Ein exemplarisches Frauenleben zwischen Berlin und Demmin, zwischen der Jahrhundertwende und zwei Weltkriegen. Ein strahlender Aufbruch und ein langer, bitterer Abgesang.

Dr. Marina Sauer  

DAS VERBORGENE MUSEUM zeigt ca. 60 Arbeiten aus Museen und Privatbesitz  in Zusammenarbeit mit der Kuratorin Marina Sauer und der Stiftung Pommern, Kiel. Die Ausstellung war auch in veränderter Form im Museum der Hansestadt Greifswald zu sehen

Biografie
Künstlerinnen F-J
Publikationen F-J

Eröffnung 
Mittwoch, 28. Mai 1997 | 19 h


Es spricht
Dr. Marina Sauer,  Kunsthistorikerin
Stiftung Pommern, Kiel


Laufzeit
29. Mai 1997  -  06 JULI 1997

Öffnungszeiten
Do - Fr 15- 19 |  Sa -So 12- 16 h

 

STANDORT | Adresse 
DAS VERBORGENE MUSEUM
Dokumentation der Kunst von Frauen e.V.
Schlüterstrasse 70
10625 Berlin-Charlottenburg

 

Einladungskarte zur Ausstellung

 

Publikation liegt zur Ausstellung vor

Marina Sauer, Das Geheimnis der Blauen Balken
- Ilse von Heyden-Linden – Leben und Werk 
Hrsg. Stiftung Pommern Kiel, 224 S.
Farb- und s/w Tafel-Abb.
Körner Verlag Kiel 1996      

Die Ausstellung wurde eingerichtet von der
Stiftung Pommern, Kiel

Mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur
Beirat des Künstlerinnen Programms.


STANDORT > ADRESSE

Der Verein DAS VERBORGENE MUSEUM | Dokumentation der Kunst von Frauen eV
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